An dieser Kreuzung im Hochland der Westfjorde wird mir bewusst, wie einsam es hier ist. Seit zwei Tagen trampe ich mit Hannah durch die abgelegenste Region Islands – die Westfjorde. Wir stehen fast eine Stunde hier oben, nur Wind und die Reste des Winters. Der Schnee liegt hier selbst 600 Meter über dem Meeresspiegel noch – im Juli. Kaum ein Auto kommt. Was auf der Karte nach der Kreuzung zwischen zwei Hauptstraßen aussieht, würde selbst in Brandenburg noch nicht einmal als Feldweg durchgehen. Nach einer Stunde hält endlich das erste Auto, nachdem uns zuvor nur drei andere Autos passiert haben. Zwei davon hätten genug Platz gehabt. Dann frage ich mich immer, was diesen Menschen passiert sein muss, dass sie uns in dieser gottverlassenen Gegend zurücklassen. Also Leute, nehmt Tramper mit, die beißen nicht! Ich habe während der Fahrt nach Ísafjörður auch endlich Zeit, die letzten Tage Revue passieren zu lassen.

Die Kreuzung bei Patreksfjörður bekamen wir innerhalb von zwei Tagen dreimal zu Gesicht. Zweimal unfreiwillig.
Die Kreuzung bei Patreksfjörður bekamen wir innerhalb von zwei Tagen dreimal zu Gesicht. Zweimal unfreiwillig.

Zurück in die Zukunft

Am nächsten Morgen stehen wir wieder früh auf, schließlich müssen wir die 30 Kilometer wieder zurück, die wir am Abend zuvor mit Marino und Freyja mitgefahren sind. Zunächst nehmen uns ein paar Polen mit, die auf einer Fischfarm arbeiten (Polen sind die größte Einwanderergruppe in Island). Dann eine Deutsche, die mit dem Freund aus Niedersachsen nach Island gezogen ist und nun mit der Betreuung von Ferienwohnungen ihr Geld verdient. Dann nimmt uns eine Frau aus Reykjavik mit, die auf die Farm ihrer Eltern will, kurz hinter der Fliegenkreuzung. Wie sich herausstellt, waren Marino und Freyja am Abend zuvor auf dem 50. Geburtstag ihres Bruders. Island ist klein. Die Westfjorde sind noch kleiner. Gegen 12 Uhr sind wir endlich an der Kreuzung vorbei, an der wir am Abend vorher verzweifelt sind. Freundlicherweise fährt sie uns noch am Brutgebiet der Seeschwalben vorbei. Die attackieren nämlich liebend gerne Fußgänger, da sie denken, dass man ihre Nester angreifen will.

Die Papageientaucher sieht man in Látrabjarg dutzendfach.
Die Papageientaucher sieht man in Látrabjarg dutzendfach.

Papageientaucher in Látrabjarg

Nach einer halben Stunde an diesem Fjord, der auch wieder wunderschön ist, stoppen endlich zwei Amerikaner aus Atlanta. Mit dem Pärchen kommen wir direkt bis Látrabjarg. Dort schauen wir uns endlich die vielen Papageientaucher an. Die wollte ich auf der Reise unbedingt sehen. Und wie viele da waren! Auch die Klippen kraxeln wir fast noch bis ganz hoch. Am Ende siegen aber Zeitdruck und Müdigkeit: bis ganz nach oben steigen wir dann doch nicht. Stattdessen der Abstieg. Er kommt mir weiter vor als der Aufstieg. Es kann aber auch einfach daran liegen, dass wir auf der Rücktour schon alles gesehen haben und ich in Island automatisch auf Neues warte. Nach einer kurzen Autofahrt, setzen uns die beiden Amis an ihrem Hotel kurz vor Látrabjarg ab.

Neben einem der stärksten Männer Islands - Hjalti Ursus - sehe ich ziemlich schmächtig aus.
Neben einem der stärksten Männer Islands – Hjalti Ursus – sehe ich ziemlich schmächtig aus.

Hjalti Ursus – Der isländische Strongman

Es dauert nicht lange bis ein Pick-Up-Truck hält: Ein kräftiger Typ sitzt am Steuer. Ein kleiner blonder Junge ist Beifahrer. Der Mann erzählt uns, dass seine Familie aus dieser Gegend stammt. Er hat das alte Haus übernommen und renoviert. Er erzählt uns auch von den Wettbewerben der stärksten Männer, die jedes Jahr in den Westfjorden stattfinden. Wie sich herausstellt sitzen wir neben Hjalti „Ursus“ Arnason, der mehrfach der Vizemeister der stärksten Männer Islands war und auch bei internationalen Wettbewerben der starken Männer teilgenommen hat – unter anderem auch in Schottland bei den Highland Games, wo er Baumstämme geworfen hat. Dieser „Bär“, was Ursus in Lateinisch bedeutet, ist heute ein Filmbär. Hjalti produziert heute Filme und Fernsehsendungen in Island – unter anderem mit Produktionsteams aus den USA.

Leung und seine Frau haben uns verpflegt und uns viele interessante Geschichten von ihren Reisen erzählt.
Leung und seine Frau haben uns verpflegt und uns viele interessante Geschichten von ihren Reisen erzählt.

Rauðasandur und die Chinesen mit dem Mutterinstinkt

Hjalti setzt uns an der Kreuzung nach Rauðasandur ab. Zum Glück wieder etwas in Entfernung zu den angriffslustigen Vögeln. Als kurz darauf ein Jeep anhält, sind wir erst verwundert, denn Jeeps und Pick-Ups halten eher selten. Wir können uns das bisher nicht erklären. Drin sitzt ein freundliches asiatisches Pärchen. Sie räumen sogar den Rücksitz komplett frei und schaffen auch noch Platz im Kofferraum für unsere Backpacking-Rucksäcke. Die beiden kommen aus Hongkong und sind erstmals in Island. Als uns Leung und seine Frau von ihren vorherigen Trips erzählen, geht sogar mir die Kinnlade runter. Die beiden sind total besorgt um uns und kümmern sich rührend. Als wir berichten, dass wir bisher noch nicht viel gegessen haben, packen sie auf dem Parkplatz Brot und eine Dose Thunfisch aus. Da Hannah Vegetarierin ist, bekommt sie ein paar Äpfel und andere Früchte, über die sie sich wahnsinnig freut, denn Obst ist relativ teuer in Island. Während die beiden lieben Chinesen sich erstmal umschauen, essen wir erstmal. Danach warten sie sogar noch, bis wir unsere Fotos gemacht haben. Vor der niedlichen Kirche in Rauðasandur machen wir noch einen Gruppenselfie – stilecht mit Selfie-Stick natürlich. Nachdem wir noch E-Mails ausgetauscht haben, setzen die beiden uns wieder an der Kreuzung des Todes ab. Zum Glück warten wir diesmal nicht lange.

An dieser Brücke bei Bildudalur warteten wir dann nach dem Angriff der Terrorvögel.
An dieser Brücke bei Bildudalur warteten wir dann nach dem Angriff der Terrorvögel.

Hitchcock reloaded und das Warten auf Godot

Kurz darauf werden wir wieder von einer Isländerin mitgenommen, zurück nach Patreksfjörður und dann von einem Farmer bis Tálknafjörður, wo wir am Vormittag gestartet waren. Danach werden wir noch bis Bíldudalur mitgenommen. Der Fahrer setzt uns an der Kreuzung vor dem Ort ab. Nach Osten geht es Richtung Ísafjörður, wo wir eigentlich die Nacht verbringen wollen. Wir entscheiden uns zumindest schon mal in die Richtung zu laufen, um es Fahrern leichter zu machen, die uns mitnehmen wollen. Wie immer haben wir damit mal wieder die Rechnung ohne die Vögel in Island gemacht. Die Seeschwalben, die im Feld nebenan brüten, mögen unseren Gang entlang der Straße überhaupt nicht. Sie steigen zu Dutzenden auf, gackern und kacken vor uns aus der Luft auf die Straße. Wir rennen wie angestochen entlang, da die Biester gerne mal auf den Kopf hacken. Ich muss mal wieder an Hitchcocks „Die Vögel“ denken. Angst vor Eisbären? Von wegen! Vögel sind die wahre Bedrohung in Island. Die beste Hilfe: Einen höheren Punkt schaffen, denn dann greifen sie den an. Ich halte meine Mehrwegpfandflasche aus Deutschland nach oben. Wie Hannah mir zuschreit, haben sie anscheinend auch Aggressionen gegen Coca Cola, den die Flasche wird gleich doppelt gepickt. Zum Glück ist es nicht mein Kopf. Nach rund 500 Metern haben wir das Brutgebiet endlich hinter uns und die Seeschwalben lassen uns in Ruhe. Wir sind durchgeschwitzt vom Sprint mit unseren Rucksäcken und stellen uns wieder an die Straße. Und warten. Und warten. Und warten. Und es kommt genau: nichts.

Die natürliche Quelle im Reykjarfjörður hat sogar einen Swimming Pool. Der Campingplatz daneben ist für Besucher ebenfalls benutzbar.
Die natürliche Quelle im Reykjarfjörður hat sogar einen Swimming Pool. Der Campingplatz daneben ist für Besucher ebenfalls benutzbar.

Geheimtipp eines Einheimischen: Der Pool im Reykjarfjörður mit gratis Campingplatz

Nach einer Stunde der gepflegten Langeweile an einem weiteren schönen Fjord, hält endlich ein dunkler Skoda. Am Steuer sitzt Magnus. Er will nicht nach Ísafjörður. Uns ist es egal, wir wollen einfach nur von den Terror-Vögeln weg. Magnus erzählt uns unterwegs auch von seinem Ziel. Es ist der Reykjarfjörður, in dem seine Familie bis vor Jahrzehnten gewohnt hat und der heute unbewohnt ist – bis auf das Ferienhaus seines Bruders – eine Entwicklung die die Westfjorde zu den am wenigsten besiedelten Gebieten Islands gemacht hat. Vor 80 Jahren lebten dort noch fast doppelt so viele Menschen.
Da die Familie die Stille des Fjordes aber gern mit anderen teilt, unterhalten sie einen Pool, der von einer heißen Quelle gespeist wird. Es gibt eine für Islands Hot Pots sehr saubere Umkleidekabine. Auf dem Rasen neben dem Pool kann man gratis campen – mit Blick auf den Reykjarfjörður. Anfangs überlegen wir noch, wollen doch endlich nach Ísafjörður. Nach ein paar erfolglosen Versuchen, die vorbeifahrenden Campervans anzuhalten, geben wir auf. Wir entscheiden uns zu bleiben. Magnus macht sich derweil zurück nach Bíldudalur.

Hannah vor unseren Zelten: Reis mit Möhren gekocht.
Hannah vor unseren Zelten: Reis mit Möhren gekocht.

Lolo Ferrari und der nächste Island-Geheimtipp

Wir packen derweil gemütlich unsere Zelte aus und bauen auf. Hannah ist wesentlich schneller als ich, sie fährt öfter auf Festivals. Am Ende stehen die beiden Ein-Mann-Zelte ordentlich nebeneinander. Mit ihrem mitgebrachten Kocher, machen wir uns Reis mit Möhren, ich mische noch Thunfisch dran. Kurz danach ziehen wir uns um und steigen in den Swimmingpool der angenehme 37 Grad hat. Etwas weiter oben gibt es sogar die echte Quelle, die von Magnus und seinen Brüdern angestaut wurde. Sie ist noch etwas heißer. Im Swimmingpool tummeln sich derweil zwei Franzosen und zwei Quebecer. Sie unterhalten sich laut auf Französisch. Das Pärchen aus Frankreich versucht mehrfach Hannah mit einem der Quebecer zu verkuppeln. Besonders Druck macht die Frau, die nicht nur wasserstoffblonde Haare sondern auch aufgespritzte Lippen und eine Brust-Vergrößerung hatte. Sie sieht aus wie der Geist von Lolo Ferrari. Ok, nicht ganz so schlimm aber fast. Kurz darauf fährt noch ein Jeep neben unser Zelt. Das isländische Pärchen baut sein Zelt auf. schnell kommen wir ins Gespräch. Þórir und seine hochschwangere (!) Frau machen Camping-Urlaub. Für Isländer kein Problem. Er gibt mir noch den Tipp nach Asbyrgi in die Schlucht zu fahren und hilft mit seinem Wissen bei meiner weiteren Reiseplanung. Am Ende lädt er mich in die Ostfjorde ein, seine Familie besitzt dort ein Hostel, ich solle ihn doch dort besuchen kommen, er sei ab 10. Juli für einige Tage dort. Gegen 1.30 Uhr ist der Tag dann vorbei. Die Sonne ist nicht wirklich untergegangen. Sie steht hinterm Berg. Ich schlafe trotzdem ein. Die wahrscheinlich schönste Zeltnacht meines Lebens – in diesem beinahe einsamen Fjord am Ende Europas.

Posted by Peter Althaus

Hi, ich bin Peter und ich schreibe hier auf Rooksack über meine Abenteuer mit dem Rucksack in der Welt. Wenn Du mehr davon willst, folge mir auf Facebook, Twitter oder abonnier uns per E-Mail!

One Comment

  1. Mel (worldwhisperer) Juli 19, 2015 at 17:23

    So tolle Berichte – ich lese immer wieder gerne von Reisen in Island 🙂

    Liebe Grüße
    Mel

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